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slr. 17. Morgenausgabe. Zreitag den 22. Zanuar 1915
42. Zahrgang.
Der Krieg.
Der deutsche Tagesbericht
vlb.Grotzes Hauptquartier, 21. Jan.
t«15, vormittags. (Amtliches Telegramm.)
Westlicher Kriegsschauplatz:
Zwischen Küste und Lps fanden auch
gestern nur Artilleriekämpfe statt.
Ter vorgestern von uns genommene
Schützengraben bei Notre Dame de Lo¬
re tte ging heute nacht wieder verloren.
Nordwestlich Arras griffen die
Franzosen beiderseits der Chaussee
Arras-Lille wiederholt an, wurden
aber zurückgeschlagen«
Südwestlich Berry au Bae wurden
de« Franzosen zwei Schützengräben
genommen, die trotz lebhafter Gegen¬
angriffe durch uns behauptet wurden.
Französtsche Angriffe gegen unsere
Stellungen südlich St. Mihiel, wurden
abgewiesen.
Nordwestlich Pont ä Mousson ge¬
lang es einen Teil der vor drei Tagen
entriffenen Stellungen znrückzuneh-
m en. Unsere Truppen eroberten dabei
vier Geschütze und machten mehrere
Gefangene. Um den Rest der verloren
gegangenen Stellung wird noch gekämpft.
In den Vogesen nordwestlich Senn,
heim dauern die Kämpfe noch an.
Oestlicher Kriegsschauplatz:
In Ostpreußen ist die Lage unver¬
ändert.
Ein kleineres Gefecht östlich Lipmo
verlies für uns günstig. Hundert
Gefangene blieben in unserer Hand.
Im Gelände westlich der Weichsel,
nordöstlich Borzimon schritt unser An¬
griff fort.
Ein ruffischer Angriff westlich Lo-
pnszno, südwestlich Konskio, wurde
ab geschlagen.
Oberste Heeresleitung.
Der Kries im (Besten.
Tie Rechtfertigung unseres Luftangriffs.
Zu dem Angriff unserer Luftflotte auf das be¬
festigte Great Aormouth wird folgende Erklärung
durch „W.-T.-B." veröffenilicht:
Nach den bisherigen Vorgängen kann es nicht
Wunder nehmen, daß die Rcgicruna und Presse
Englands den Angriff unserer Luftschiffe auf die
englische Küste nicht unbenutzt vorübergehen lassen
würde, um in schwersten Beschuldigungen gegen die
deutsche Kriegführung sich zu ergehen, sie der Bar¬
barei zu bezichtigen. Der ganzen Welt wird dies
verkündet, in zahlreichen Funksprüchen über den
Ozean geschickt und in die entferntesten Teile der
Erde gekabelt. Was ist an alledem dran?
Nichts weiter, als daß unsere Luftschiffe, um zum
Angriff auf den befestigten Platz Great
N a r m o u t h zu gelangen, andere Plätze überflogen
haben, aus denen sie nachgewiesenermaßen be¬
schossen worden sind, und deren Angriffe sie
durch Abwerfen von Bomben erwidert haben.
Dies geschah bei Nacht und bei nebligem regneri¬
schem Wetter.
Hat diese Nation, deren Flugzeuge am hellen
Tage über der offenen Stadt Freiburg i. Br.
Bomben abwarfen, deren Schiffe wiederholt offene
Städte, wie Taressalaam, Victoria (Kamerun),
Swakopmund, beschossen, ein Recht, den Ent¬
rüsteten zu spielen? Die Nation, die kein Mittel
scheut, um ungeachtet völkerrechtlicher Auffassungen
Knd Neutralitätsbcstimmungen ihre Absichten durch¬
zuführen? Der Luftangriff ist ein ancr -
k>a n n t e 2 M i t t c l m o d e r n e r K r i e g f ü h -
r u ng. sofern er sich innerhalb der allgemeinen
völkerrechtlichen Grundsätze hält. Unsere Luftschiffe
haben sich innerhalb dieser Grenzen gehalten. Die
deutsche Nation ist durch Großbritannien gezwungen
Worden, um ihr Leben zu kämpfen. Tie kann
nicht gezwungen werden, auf irgendein
Mittel legitimer Selbstverteidigung
zu verzichten, und wird auch nicht da¬
rauf verzichten ini Vertrauen auf ihr gutes
Recht,
Die französischen Kriegsberichte.
wtb Paris, 20. Jan. 1915. Am Mittwoch wurden
folgende amtliche Berichte ausgegebeni: Um 3 Ubr
nachmittags: Vom Meere bis zur Somme, vor allem in
der Gegend von N i e u v o r t , ziemlich lebhafte Artil-
leriekämpfe. in irren Verlauf der Feind vergeblich ver¬
suchte. unsere Brücke über die Aser-Mündung zu zer¬
stören. während es uns gelang, einen Teil seiner Neben¬
werke bei St. Georges und bei dem Gehöft Union (öst¬
lich von St. Georges, auf dem linken Flutzufer), das
sehr stark ausgebaut war, zu zerstören. In dem Ab¬
schnitte von Dpern und Lens Artilleriekämpfe von
schwankender Stärke. Sehr heftige Beschießung von
Blangy bei Arras. jedoch nicht gefolgt von Jnfan-
terieangriffen. Im Abschnitt von S o i s s o n s wie auch
bei Craonne und Reims sowie in der Gegend des Lagers
von Chülons und im Norden von Perthes und Massiges
(zwischen Perthes und Vienne) führte unsere Artillerie
ein wirksames Feuer auf die feindlichen Befestigungs¬
werke aus. In den A r g o n n e n, im Walde La Grurie,
bat der Feind einen unserer Gräben heftig angegriffen.
Unsere Truppen, die vor dem Ansturm einen Augenblick
gewichen waren, haben durch zwei energische Gegenan-
grifte zunächst den größten Teil und dann den Rest der
Stellungen wieder genommen und sich dort behauptet.
Bei St. Hubert haben die Deutschen den Nordost¬
vorsprung unserer Schützengräben mit Minen in die
Luft gesprengt, aber unsere Truppen stürzten sich
in die gebildeten Erdtrichter und verwehrten den Deut¬
schen den Zugang zu ihnen. Im Nordwestcn von
Pont-ä»Mousson im Walde von Le Pretre haben
wir uns 100 Meter vor den gestern besetzten deutschen
Schützengräben festgesetzt. Der Fie-inst wachte gegen
Ende des Tages einen erfolglosen Gegenangriff. (Wie
der deutsche amtliche Bericht meldet, ist ein Teil der
Gräben inzwischen zurückerobert worden.) Im Abschnitt
von Thann Artilleriekampf, in dem wir die Ober¬
hand hatten. — Um 11 Uhr abends: Gestern abend
hatte der Feind in einem unserer Schützengräben nürd-
lich Notre Dame de Lorette Fuß gefaßt. Heute
früh ist er infolge eines Gegenangriffs daraus ver¬
trieben worden. Er ließ in unseren Händen 100 Ge¬
fangene. Im Laufe der Nacht vom 19. zum 20. gelangte
in,der Gegend von Albert ein Angriff südlich Thiep-
val bis zu unseren Drahtverhauen und wurde dann
zurückgewvrsen. Drei aufeinander folgende Angriffe
bei La B o i s s e l l e hatten dasselbe Schicksal. In den
Argonnen wurde ein feindlicher Angriff bei der F o n -
taine-aux-Charmes nach einem Kampfe Mann
gegen Mann abgeschlagen.
Also wieder die üblichen französischen „Siege"
auf der ganzen Linie. Wenn das so fortgeht, werden
uns die Franzosen auf dem Papier bald bis an den
Rheiu zurückgeworfen haben. Merkwürdig, daß die
Dinge hinterher immer ganz anders aussehen.
Auffallend ist. daß er Bericht von französischen An¬
griffen wenig zu melden weiß.
Die Lage der Franzosen an der Aisne.
Wie die „Boss. Ztg." meldet, räumt der Pariser
„Temps" ein, daß die L a g c sehr schwierig
ist. Die Zeitung schreibt: Wenn wir Fortschritte
bei Soissons machen wollen, ist cs absolut notwen¬
dig. daß wir bedeuten de Verstärkungen
und reichliche Mengen an Munition senden.
(ctr. bln.)
Soissons von den Einwohnern geräumt.
vtb. Paris, 21. Jan. 1915. ,Petit Parisiew zu¬
folge wurde S o i s s o u s auf Anordnung der Mli-
tärbehörde von den Einwohnern geräumt.
Lieber „Kontrolle üben," als in den Schützengräben
liegen.
Aus Paris berichtet die „Deutsche Tageszeitung":
Hundert Deputierte beratschlagten im Palais Bourbon,
wie sie ihrer Militärpflicht genügen und gleichzeitig
dem Parlament beiwohnen könnten. Die Sitzung ver¬
lief sehr stürmisch. Die meisten Deputierten hatten den
Dienst im Felde satt, weil sie bereits fünf Monate drau¬
ßen waren; jetzt wollen sic ihre Pflicht dem Parlament
gegenüber erfüllen und Kontrolle üben. Große Enttäu¬
schung bereitete der Entschluß der italienischen Sozia¬
listen, für die Beibehaltung der Neutralität größte Pro¬
paganda zu machen, (ctr, bln.)
Englische Plünderer.
‘ Während zu Beginn des Feldzuges anerkannt
werden mußte, daß sich die Engländer vom Plün¬
dern fernhielten und dieses Geschäft ihren indischen
Hilfstruppcn überließen, brechen sie jetzt selbst Türen
und Schränke auf — haben aber dafür einen Vor¬
wand gefunden, der ihrem allzeit heuchlerischen Ge¬
bühren ganz entspricht. In der Pariser „Humanste"
vom 4. Januar wird, der „Frkf. Ztg." zufolge, das
Tagebuch eines Parisers veröffentlicht, der die Be¬
setzung des Seine et Marne-Departements miter¬
lebt hat. Darin heißt es wörtlich:
„In Sommeron-sur-Marne zögerten die Engländer
keinen Augenblick, die verschlafenen Haustüjren
auszubrcchen ünd sich aller Sachen z u b e m äck-
t i g e n, die sie brauchen konnten, wie Wäsche, Seife
usw. Auf die Vorwürfe, die ich ihren Offizieren
machte, antworteten diese mir: „Was wollen Sie?
Morgen silnd die Do nt scheu hier und plündern
alles. Ta ist cs doch besser, wir bedienen uns vor¬
her."
Man begreift, daß der französischen Zivilbevölkc--
rung über ihre englischen Retter die Augen auf¬
gehen mußten, zumal, wenn nachher die d e u t -
s ch e n Soldaten cinzogen und — ihr Brot mit den
Notleidenden teilten.
Wir haben nur einen Feind: England.
Dafür bieten wiederum die neuerdings ausgeschten
Preise für besondere Waffentaten einen sorgenden
Beleg: Von vier solchen Preisen, über die der „Reichs¬
anzeiger" berichtet, sind allein drei für Waffcntaten
gegen England gestiftet; die besonderen Zweck¬
bestimmungen dieser drei Preise, deren Summe zwi¬
schen 500 und 2500 Mark beträgt, sind die folgenden:
„Dem Soldaien. der als erster Kämpfer das Festland
Englands betritt." „Für die Mannschaft des Düssel¬
dorfer Luftschiffes, das die erste Fahrt bis an die eng¬
lische Küste macht, so daß dort Sprengkörper geworfen
werden können." „Für denjenigen Flieger, der die
erste Bombe auf Dover herabsendcn wird." (ctr. bln.)
Der Kries gegen Russianl
Ter österreichische Kriegsbericht.
wtb Wien, 21. Jan. 1915. Amtlich wird ge¬
meldet: Die Situation ist unverändert.
An der ganzen Front nur stellenweise Geschützkamps.
Der Stellvertreter des Chefs des Generalstabes,
von Hoefer, Feldmarschalleutnant.
Polen unter Deutscher Verwaltung.
:: Die deutsche Gründlichkeit und umsichtige Für¬
sorge für die Bewohner des besetzten Landes kommt
recht deutlich pttt Ausdruck in Veröffentli¬
chungen des de ut scheu Gouverneurs
in Lodz, die die „Rhcin.-Wests. Ztg." wiedergcben
kann.
In einer „Lokalnotiz" der ^Neuen Lodzcr Zei¬
tung" wird mitgcteilt, daß ein Sonderzug mit etwa
70 Waggons obcrschlcsischer Steinkohle in Lodz
cingetroffen sei. Ein Teil dieser Kohlen sei für bas
Lodzcr Elektrizitätswerk bestimmt, der andere Teil
werde m die Bürger abgegeben. Schon am Tage
vorher sei ein Transport Kohlen eingetroffen, der
aber ausschließlich für Militärzwccke bestiimnt gewe¬
sen sei. In derselben Nummer der „Reuen Lodzcr
Zeitung" wird mitgcteilt, daß 25 Waggons mit Le¬
bensmitteln eingetroffen seien, bestehend aus 4000
Sack Mehl, Reis, Salz, Schmalz usw., „die von der
deutschen Militärbehörde für die Stadt Lodz zur
Verfügung gestellt wurden."
In den Briefen der Krieger und der Kriegsbe¬
richterstatter im Osten wird bekanntlich viel geklagt
über den bodenlosen Zustand der Wege und
„Straße n" in Russisch-Polen. Tic deutsche Mili-
t ä r v c r w a l t u n g scheint berufen zu sein, den
Russen endlich einmal Straßen zu verschaffen, die zu
befahren sind. Mehrere Straßen und Plätze in Lodz
sind, wie aus redaktionellen Mitteilungen der ge¬
nannten Lodzcr Zeitung hervorgeht, bereits instand
gesetzt worden. Bekannt gegeben wird ferner eine
Anordnung der Militärbehörde, wonach das Zentral¬
komitee der Bürgcrmiliz sofort 400 Arbeiter zu go-
stellen hat zur Instandsetzung der Chaussee von Lodz
nach Rowosolno. Nicht umsonst sollen die Arbeiter
diese Beschäftigung verrichten, sie sollen, um die
Not unter den Arbeitslosen zu lindern, 1 Rubel den
Tag verdienen.
Um zu verhindern, daß die Bürger und das Mili-
tär durch Lebcnsmittelwuchcr ausgebeutet
werden, hat der Gouverneur mit schwerer Straf¬
androhung für die Zuwiderhandlung Höchstpreise für
Lebensmittel und Bedarfsgegenstände. festgesetzt, die
in der Haupffache den Preisen in West- und Mittel¬
deutschland entsprechen, für Fleisch sogar — bis auf
Speck — billiger sind als bei uns. Roggenmehl kostet
zum Beispiel das Pfund polnisch (gleich 409 Gramm)
12 Kopeken oder 38 Pfennig, Sauerkraut 5 Kopeken
oder 10 Pfennig, Rindfleisch erster Qualität 25 Ko¬
peken oder 50 Pfennig, zweiter Qualität 23 Kopeken
oder 46 Pfennig, Schweinefleisch 34 Kopeken oder
68 Pfennig, Speck 50 Kopeken oder 100 Pfennig,
Kartoffeln 60 Pfund polnisch 1 Rubel oder 2 Mark.
Eine andere Verordnung bestimmt, daß die Preis¬
verzeichnisse in allen Verkaufsstellen, Restaurants
und Hotels die Preise in Mark und Pfennigen ange-
bcn müssen. Tie Angabe in Rubeln und Kopeken
kann daneben bestehen bleiben.
Rcckn scharf geht der Gouverneur gegen die
Verbreiter falscher Gerüchte vor. So gibt er amtlich
bekannt: „Ich habe den Reporter K. Kaminski aus
dem Gebiet des Gouvernements Lodz entfernen las¬
sen, weil er folgende Nachricht verbreitet hot: „Aus
glaubwürdigen Quellen erfahren wir. daß die russi¬
schen Truppen nach eintägigem erbitterten Kampfe
Lenczvca, Poddebice und Kutno cinnahmcn." Die
Nachricht ist erlogen! Tatsächlich geht die russische
Armee kämpfend'auf Warschau zurück. Tie Nach¬
richt ist geeignet, schwere Beunruhigung itt die
Bürgerschaft zu tragen. Es wird darauf hinge-
wieien, daß für die Verbreitung falscher Nachrichten
die Todesstrafe verhängt werden kann. Der Gou¬
verneur."
In derselben Nummer muß die Redaktton be¬
kannt geben: „Der verantwortliche Redakteur der
„Lodzer Zeitung", Waldemar Petersilge. wird mit
einhundert Mark Strafe belegt, weil er eine Anord¬
nung der Presseverwaltung nicht befolgt hat."
Dagegen paßt sich die Redaktion der „Neuen
Lodzer Zeitung" den neuen Verhältnissen ganz gut
an und dürfte'kaum mit dem Gouverneur in Streit
geraten. Das offensichtlich deutschfreundliche, im 14.
Jahrgang erscheinende Blatt, bringt als Nachrichten
von den Kriegsschauplätzen in der Hauptsache die
Wolfs Meldungen aus den Hauptquartieren der
Deutschen, Oesterrcicher und Türken: Meldungen
aus russischer Quelle sind in diesem Blatte nicht zu
finden. Auf eigene Mitteilungen über die Kriegs¬
lage in Polen verzichtet es auch, über die Lage zwi¬
schen Lodz und der Weichsel gibt es Prcssestimmen
aus italienischen und holländischen und englischen
Zeitungen wieder.
Aus einer Rubrik „Arbcitcrküchen" erfahren wir,
daß in der Fürsorge für die Bedürftigen vor allem
die vom Gouverneur in ihren wirtschaftlichen Bestre¬
bungen unbebelliat gebliebenen Gewerkschaften sich
betätigen. Tie Verbände der Arbeiter der Leder-
branche, der Metallarbeiter, der Textilarbeiter, der
Plüscharbeiter, der Schneider, der Bauindustrie, der
Papierindustrie, der Fleischer und der jüdischen
Schneider' unterhalten 11 Volksküchen, in welchen
„Mittage" von 3 Kopeken (6 Pfennig) verabreicht
werden. Auch der jüdische Lehrerverein bemüht sich
um die Beschaffung und Bertcilunq von Lebens¬
mitteln.
Tic Zustände im russischen Heer.
In Wiener und Schweizer Blättern finden wir fol-
genen Bericht des Wolssschen Büros:
Unser Spezialberichterstatter im Osten telegraphiert
uns: Gestern übermittelte ich einige Symptome für
die Stimmung in der russischen Armee. (Vergl. unser
gestriges Mittagblatt.) Lossen Sie mich zur Ergänzung
heute berichten, was ich auf dem Wege zu einem öst¬
lichen Kriegsschauplatz in einer deutschen jstabt erfuhr.
Es waren viele Russische Offiziere als Gefangene inter¬
niert Der Kommandant hatte die Liebenswürdigkeit,
mir einen Einblick in deren Leben zu gewähren, das
ich nicht hart fand Auch gestattete er mir, Notiz zu
nehmen von den protokollarischen Auszeichnungen, die
über die Aeußerungen der gefangenen Offiziere dienst¬
lich ausgenommen wurden und an deren Klarheit ich zu
zweifeln keinerlei Anlaß hatte, da ich selbst die Geneh¬
migung zur Veröffentlichung meiner Notizen erhielt.
So will ich die frappantesten Aeußerungen Ihnen
telegraphieren. Sind einige davon auch schon älteren
Datums, so kann man doch schwerlich glckuben, daß sich
inzwischen der Geist der russischen Armee gehoben hat.
Eber möchte das Gegenteil zutresfen. Unter diesem Ge¬
sichtspunkt überrascht die weite Verbreitung und Stärke
des Pessimismus, der schon von Anfang an im
russischen Offizierskorps herrschte, ganz besonders, ^m
übrigen sprechen die Aufzeichnungen am besten für ftck.
ohne jeden Kommentar.
1. Ein Hauptmann vom Regiment Alexander 111.
sagte: „Es ist ein Unglück für Rußland und für das
arme Volk, daß seine Führer nicht nach ihrem Kön¬
nen. sondern, nach ihren Verwandtschaften ge¬
wertet werden."
2. Leutnant K. vom Regiment Nr. 23 erzählte von
der Schlacht bei Tannenberg: „Als die Situation
kritisch wurde, verschwand einfach unser Di¬
visionskommandeur Generalleutnant Tarklus
mit dem ’ Gencralstabsches Oberst Stubendorff. Der
Divisionsadjutant sübrtc die Division. Kein Mensch
bekam Befehle, kein Mensch wußte, was er tun sollte.
Die Sanitätssoldaten liefen zwischen den Töten und
Verwundeten umher und plünderten sie aus."
3. Ein General, der eine Jnsantericbrigade kom¬
mandiert hatte, erklärte: „Ich bin e > n alter Mann
und kein Krieger. Als eine deutsche Patrouille
kam, hob ich die Hände boch und ries: Ick ergebe mich!"
4. Ein Oberst und Regimentskommandant äußerte,
als er 1300 Mann seines Regiments als Gefangene
wiedcrsah: „Ich habe den russisch-japanischen Krieg mit¬
gemacht. Er war lange nicht so anstrengend. Im jetzigen
Krieg gibt es Gefechte, so daß die Leute einfach zusam¬
menklappen ünd sich ergeben, um endlich einmal Ruhe
zu haben. Ein Reserveoffizier und ich sind noch die
einzigen Offiziere meines Regiments. . Ich glaube, das
deutsche Volk hat die besseren Nerven."
5. Rittmeister K. von einem Kavallerieregiment
sagte zu den Offizieren seiner Eskadron: „Rußland bat
zu große Verluste an Toten und Gefangenen gehabt,
um den Krieg noch gewinnen zu können. Ich glaube
nicht an den Sieg."
6. Ein Leutnant vom 3. sibirischen Armeekorps sagte:
Allmählich beginnt man bei uns einzusehen, daß die
Engländer uns in diesen Krieg hineingezogen haben,
wir hatten gar keinen Grund zum Kriege
gegen Deutschland.
-schließlich will ich noch zwei Aeußerungen wieder¬
geben über die Sondertendenzen, die an der Einheitlich¬
keit der russischen Armee rütteln. Ein Hauptmann vom
finnländischcn schützcnrcgiment sagte, als er im La¬
zarett lag: Ich bin ein Verehrer Tolstois und aus die.
sem Grunde ein Feind des Krieges. Auf die Frage,
warum er dann Ossizier geworden sei, erwiderte er aus¬
weichend: Wir haben viele Anhänger Tolstois unter
unseren Offizieren.
Ein Leutnant vom dritten Armeekorps, ein fana-
tischer Pole, erklärte: 30 v. H. der Offiziere unseres
Korps sind Polen; sie kämpfen alle nur mit Unlust.
Polnische Mannschaften äußerten dies sogar ganz laut
in Gegenwart von Offizieren. Was haben wir
Polen von den Russen zu erwarten? Wenn
sie siegen sollten, woran wir sehr zweifeln, werden wir
es nur noch schlechter haben.
Ter Wert der Festung Krakau.
Der Kriegsberichterstatter Lennhoff berichtet tit
der „Voss. Ztg.": Im Krakauer Festungskommando
wurden beute (19. Jan.) die der vierten Armee zu-
gcteiltcn Kriegsberichterstatter vom Festungskom-
Mandanten, Feldmarschalleutnant Kuk, empfangen.
In seiner Ansprache sagte der Fcstungskomman-
dant: „Tie Festung bildete bei den elf Tage dauern¬
den Kämpfen das Verbindungsglied zwischen der
Armee im Norden und im Süden. Sie bewährte
sich aber nicht nur dadurch, daß die Festungsbesatz¬
ung aktiv an den Kämpfen teilnahm, sie versorgte
vielmehr auch die beiden Armeen mit mobilen
Truppen, Kriegsbedarf, Artillerie. Munition und
Verpflegung. Selbstverständlich wurden die abge¬
gebenen Kriegsmaterialien jeweils sofort wieder er¬
setzt." — Nachmittags fuhren wir über die russische
Grenze zum Schlachtfeld bei P o s k i t o w. Tie
russischen Grenzpfähle, die Brückengeländer und die
Wegweiser sind bereits schwarzgelb übermalt. Die
Straße ist tadellos instand gesetzt worden. Das
Schlachtfeld von Poskitow zeigt noch heute die Spu¬
ren von blutigen Kämpfen. Die zahlreichen um
einen Nleierhos gruppierten Häuser des Dorfes, in
dem nlssischc Maschinengewehrabteilungcn postiert
waren, sind von der mobilen Feststungsartillerie,
die in das Bereich der Feldartillerie vorgenominen
wurde, völlig zusanimengeschossen worden, (ctr. bln.)
Wie die Russen in Radantz hausten,
erzählt der „Berl. Mp." zufolge im „Jll. Wiener Extra¬
blatt" ein Richter, der neun Tage nach der ruffischon
Besetzung dieser über 7000 Einwohner zählenden Kreis-
Hauptstadt der Bukowina aus der Stadt flüchtete:
„Der Einzug der Russen in die Stadt erfolgte in über¬
raschender Weise. Gleich nach dem Einzuge begannen
die wilden Horden ihr Vernichtungswerk. Was ihnen
unter die Hände kam, wurde, wenn sie es nicht ein-
stecken konnten, in vandalischer Weise zerstört. Tie
Rumänen der Stadt, die sich infolge ihrer Nationali¬
tät für gesichert hielten, hatten, trotz der in die Fenster
gestellten Heiligenbilder, beinahe am ärgsten zu leiden.
Ja selbst das Haus des griechisch-orthodoxen Psarrers
blieb nicht verschont. Bezeichnend für die Zerstörungs¬
wut der Russen ist es, daß sie dem Lipowaner Fedor
Stechnew. der Russe ist, sämtliche Wertsachen Wegnah¬
men und seine Einrichtung in Stücke hackten. Die
armen- Frauen hatten Schreckliches zu erdulden. Die
Offiziere boten diesem Treiben nicht nur keinen Ein¬
halt, sondern beteiligten sich selbst an den Plünderun¬
gen. Es gab auch Soldaten, die am Zerstörungswerk
nickt teilnahmen. An diese wagte sich unser Gewährs¬
mann heran und fragte sie nach dem Grunde dieser