M 269.
M»»Iag tn 22. November 1915.
- Fuldaer Zeitung
2. Blatt.
vruck der ^»Idaer Ac!iendr«ck«rei in 5u!da.
gekündigte Riesenarmee hat unsere Front in Frank¬
reich und Belgien erschüttern können. Verstärkt
durch frische Kräfte haben wir in Rustland weite
Länderstrecken erobert und unüberwindlich schei¬
nende Festungen niedergerungen, während England
und seine Verbündeten im Westen hilflos Zusehen
mußten. Das von Churchill erwähnte Millionen¬
heer hat weniger Stoßkraft bewiesen als die Trup¬
pen der von Churchill so verhängnisvoll unter¬
schätzten Mittelmächte. Wenn Oberst Repington
jetzt in der „Times" schon wieder nach 30 neuen
Drvisionen verlangt, so können wir daraus ermes¬
sen, wie groß die Verluste unsere Feinde gewesen
sein müssen, und anderseits wie sehr die Achtung
vor der Entwickelungsfähigkeit unserer Wehrkraft
gestiegen ist.
In Antwerpen verkündete Churchill während
des Kampfes um jenen wichtigsten belgischen Waf-
fenplotz : Die Verbündeten halten Antwer¬
pen und werden es auch f e st h a l t e n. Wenn
es ein richtiger Prophet gewesen wäre, hätte er
hinzufügen müssen: Bis zum 9. Oktober.
In Dundee hat Churchill am 15. Juni d. I.
gesagt: „Das Heer Hamiltons und die Flotte des
Admirals Durobeck sind (an den Dardanellen) nur
wenige Meilen von einem Siege getrennt,
wie ihn dieser Kriegnoch nicht gesehen hat.
Ich spreche von diesem Siege im Sinne einer glän¬
zenden und gewaltigen Tatsache, die das Schicksal
der Nation bestimmt und die Kriegsdaucr
ab kürzt." Es wird ihm inzwischen klar gewor¬
den sein, daß es nicht llug gewesen ist, die Aussich¬
ten auf den Erfolg in dieser Weise mit dem Maß-
stab des Raumes zu messen und neben der Zeit
auch die Widerstandskraft des Gegners so ganz
außer Acht zu lassen. Wenn Churchill wirklich
glaubt, daß der Ausgang des Dardanellenkampfes
das Schicksal der englischen Nation bestimme, so
kann ihm jetzt nicht sonderlich froh zumute sein.
Auch das, was sich inzwischen am I s o n z o und
in T i r ol ereignet hat, stellt seiner Sehergabe kein
glänzendes Zeugnis aus. Nach der „Times" vom
24. September hat er vor etwa zwei Monaten ei¬
nem Mitarbeiter des „Corrrere della Sera" erllärt,
daß Oesterreichs militärische Macht sich nicht wie¬
der erholen könne und Italiens Landheer beit Zu¬
sammenbruch des Kaiserstaates herbeiführen werde.
Bis heute aber wartet die Welt vergebens darauf,
daß die Weissagung sich erfüllt. Jedermann weiß,
daß Italiens Hoffnung mit all den Tausenden sei¬
ner nutzlos geopferten Söhne für immer dahin ist.
Wir wollen der Versuchung nicht erliegen, nun
unserseits in Herrn Churchills Fehler zu verfallen
und vorauszusagen, was die Zukunft bringen wird.
Aber ebensowenig wollen wir darauf verzichten, die
wohlverdienten Lehren, die die Geschichte dem eng¬
lischen Propethen erteilt hat, auch auf die Voraus¬
sagen anzuwenden, die seine Unterhausrede vom 15.
November enthält. Aus der durch lange geschicht¬
liche Ueberlieferung fest und tief im Bewußtsein des
ganzen Volkes wurzelnden allgemeinen Wehrpflicht
schöpfen wir Kräfte, denen England selbst mit einer
verspäteten Nachahmung unseres Systems nicht?
Ebenbürtiges gegenüber stellen könnte. Und darum
wird Churchill schließlich nur mit einer seiner Be¬
hauptungen recht behalten, mit jenem Worte näm¬
lich. die er vor Jahresfrist in Liverpool sprach-
Ueber den Ausgang des Krieges kann
kein Zweifel bestehen.
Lokales.
Fulda, 22. November 1915.
(*) Die Viehzählung am 1. Dezember. Auf Be¬
schluß des Bundesrats findet, wie wir bereits berich¬
teten, am 1. Dezember eine Viehzählung statt, die
sich auf Pferde, Rindvieh, Schafe, Zie¬
gen und Schweine erstreckt. Die Zählung ge¬
schieht von Gehöft zu Gehöft und in den Gehöften
von Haushaltuna zu Haushaltung. Das Zählergeb¬
nis, das vom Zähler unmittelbar in die Zählbezirks¬
liste eingetragen wird, ist vom HauShaltungsvorsteber
mündlich zu bestätigen, Gezählt wird das in der
Nacht vom 30. November zum 1. Dezember 1915
auf dem Gehöft (Haus, Stall, Scheune, Schuppen.
Hof, Garten) oder auf den zum Gehöft gehörigen
Wiesen, Weiden und Feldern vorhandene Vieh. Am
1. Dezember verkauftes Vwh ist stets beim Verkäu¬
fer, nicht beim Käufer, zu zählen. Am Zahltage
vorübergehend (auf Reisen. Fuhren usw.) abwesendes
Vieh ist nicht im Einstellungsorte, sondern bei der
Haushaltung, zu der es gehört, mitzuzählen. Da¬
gegen wird das bei Metzgern und Händlern
siebende oder am Zähltage eintreffende und in der
Nacht vom 30. November zum 1. Dezember beför¬
derte, zum Schlachten oder zum Verkaufe bestimmte
Vieh beim betreffenden Metzger und Händler gezählt,
sofern die Tiere nicht erst am Zähltage gekauft sind.
—* Inhaber oder Ritter des Eisernen Kreuzes?
Allgemein herrscht darüber Unklarheit, ob die mit
dem Eisernen Kreuz 2. Klasse Ausgezeichneten sich
„Ritter" oder „Inhaber" nennen dürfen. Ter Stif¬
ter des schlichten Ehrenzeichens aus eiserner Zeit,
König Friedrich Wilhelm III., hat diese Frage in der
Stiftungsurkunde vom 10. März 1813 offen gelas¬
sen. Auch bei den Erneuerungen des Eisernen Kreu¬
zes im Jahre 1870 durch König Wilhelm und im
Vorjahre durch den jetzigen Kaiser wurde diese Frage
nicht berührt, ebenso in der Erweiterung der Ur¬
kunde vom 16. März d. I. In der zweiten Erwei¬
terung der Urkunde, die am 4. Juni d. I. erfolgte,
über die Verleihung des Eisernen Kreuzes heißt es
aber: „Die Inhaber des Eisernen Kreuzes 2. Klasse
von 1870/71, die sich im jetzigen Kriege auf dem
Kriegsschauplätze oder in der Heimat besondere Ver¬
dienste erwerben, erhalten als Auszeichnung usw."
Unstreitig ist also daraus zu entnehmen, daß der mit
der 2. Klasse Ausgezeichnete Inhaber und nicht Rit¬
ter ist.
Aus dem Nachbarqebiete.
ft Kassel, 20. Nov. 1915. Am 15. Nobcmber beging
Herr Rektor Karl Weber cm der Biirgerlchulr 9
Hierselbst die Feier seines 5 0jährigen 31 e r ft»
Jubiläums. 15 Jahre hat der Jueilnr als Lehrer
an der hiesigen katholischen Pfarrschule und 23 Jahre
als Leiter der im Jahre 1890 errichteten städtischen
Volksschule gewirkt. Die hiesige katholische Gemeinde
schätzt den Jubilar seit langen Jahren als tüchtigen
Jugenderzieher wie als eiftiges Kirchen-TerstandSmit-
glied. Auch als Mitglied der katholischen Vereine hat
Herr Rektor Weber stets wertvolle Arbeit geleistet. Das
feierliche Hochamt, welches Herr Pfarrer Herbert
um 9 Uhr in der St. Elisabethkirche zeleknierte, war
deshalb auch nicht bloß von den Schülern, sondern auch
von zahlreichen erwachsenen Gemeindemitgliedern be¬
sucht, welche alle im festlichen Tedeum dem Allerhöchsten
Dank sagten für die Fülle der Gaben, die er dem
Herrn Jubilar in seinem lang-n Leben zugeteilt hat.
An die kirchliche Feier schloß sich sodann eine aus An¬
laß der ernsten Kriegszeit einfach gehaltene Schulfeier
in dem f-stlilb müßten Lebrzimmer der Bürger¬
bule 9 an. Nachdem der Knabenchor der Oberklaffe
unter Leitung oe» ^errn Lehrers Ebel den Jubilar
mit dem dreistimmigen Chor „Gott grüße dich" bewill¬
kommnet hatte, überreichte Herr Stadtschulrat B o e s e
,als Kreisschulinspektor unter überaus anerkennenden
Wort-n dem Jubilar den Roten Adlerorden 4.
Klasse mit der Zahl 50, und Herr Lehrer F r e ck -
mann als Senior des. Lehrerkollegiums brachte im
Namen sämtlicher Lehrpersonen herzlichste Glückwünsche,
dar. Der Jubilar dankte darauf in tief empfundenen
Worten zunächst dem Allerhöchsten für die ihm so reich
zugewiesenen Gnaden, sodann der Behörde für die huld¬
vollen Gnadenerweisungen und schließlich seinen Mitcrr-
b itern am Erziehungswerke. Mit dem Rückertschen
„Aus der Jugendzeit" in Schumann? lieblicher Verto¬
nung schloß die schlichte, aber ergreifende Feier. In
der Familie des Jubilars setzten sich sodann die Ehrun¬
gen für denselben fort. Herr Pfarrer Herbert nebst
einigen Herren des Kirchenvorstandes von St. Elisabeth
überreichten als Geschenk der kath. Gemeinde ein pracht¬
voll:? Bild in wertvollem Rahmen: Rafaels „Schule
von Athen". Herr Dechant Delmhorst verlas ein
, Schreiben vom Domkapitel und dem Hochw. Herrn Bi-
‘ schof von Fulda, in welchem die Wirksamkeit des Jubi¬
lars im Dien st e der Kirche besondere Anerkennung
fand. Der kath. Lehrerverein Kassel überreichte durch
Herrn Lehrer B ö h m e k e die kunstvoll ausgefertigte
Urkunde für die Ehren-Mitgliedschaft des Ju¬
bilars und ein aus Holz geschnitztes prächtiges Kruzi-
fir. Sodann gratulierten noch die Kasseler Rektoren-
Vereinigung, die kath. Bürgergesellschast, die Bürger-
Englische Kriegsziele.
Im englischen Unterhause hat Churchill bekannt¬
lich dieser Tage gesagt: Die Regierung hätte statt
jeder Operation im Westen besser getan, K o n st a n-
tinopel zu erobern! Mit diesem Bekenntnis
kommt die Lügentaktik der Engländer zum klaren
Vorschein. Was gilt ihnen Belgien? Was die Be-
fteiung Nordfrankreichs? Was Italiens Geschick?
Nichts, aber die Eroberung von Konstontinopel hätte
jede Gefahr von Aegvpten, den Suezsanal und somit
auch von Indien äbgewendet. Auf garnichts an¬
deres kam es England, als seine Macht im
Orient sicher zu stellen, wenn möglich sie noch zu
vergrößern. Darum mußte es nach dem Besitz von
Konstontinopel ausschauen. Das Schicksal der Tür¬
kei sollte mit dem Fall der türkischen Hauptstadt be¬
siegelt sein und England neue Macht daraus
schöpfen.
Zu diesem Gedanken kamen die englischen Diplo¬
maten, als sie einsehen mußten, wie schmählich ihre
feine Spekulation auf Deuffchlcmds Untergang in
die Brüche ging. Wie das scher Unmögliche geschah,
daß Deutschland die russische Riesenarmee, die es
zermalmen sollte, nach Rußland zurückwarf, und
Englands und Frankreichs Heere an dem eisernen
Wall um Deutschlands Grenzen Halt machen mu߬
ten, da richteten sich die Blicke von selbst nach dem
Orient . . . und die Folge war Gallipole! An diese
Halbinsel mögen die Engländer, ob sie im Parla¬
ment oder anderswo sind, nicht gern erinnert wer¬
den. Mit ungeheuren Verlusten haben sie ihren
Vormarsch gegen Konstcmtinopel bezahlt und gar
nichts erreicht. Ihr Ansheen im Orient fft immer
mehr ins Schwinden geraten: bis bin nach Indien ist
der Nachhall ihrer Niederlage gedrungen und aus
dem brodelnden Göbren im indischen Kaiserreich ist
vielleicht schon jetzt schon der offene Aufruhr gewor¬
den. Die Engländer bewahren ein vielsagendes
Schweigen über die indischen Ereignisse. Es muß
dort allerhand zum Verschweigen gehen.
Das englische Kriegsziel war und bleibt noch
der Besitz von Konstantinopel, und es ist im tiefsten
Dunkel verhüllt, was sie zur Erreichung dieses Pla¬
nes zu tun gedenken. Darüber vergessen sie gern
ihre Bundesbrüder, und in der gleichen Sitzung im
Unterhanse konnte Carson rubig sagen: „Die Re¬
gierung hatte tatsächlich beschlossen, Serbien
keine Hilfe zu bringen!" Schon lange dachte
die englische Regierung nickt daran, Serbien ru hel¬
fen, so laut sie es mich versvrach. Ihrer Orient¬
politik sind ia ganz andere Ziele gesteckt, als Ser¬
biens kraftvolle Entfaltung! Keiner von allen Ver¬
bündeten Englands ist von den Engländern so ver¬
raten worden, wie die Serben. Aber noch ist das
„englische" Konstanünanel ein Traum, und so wird
und soll es bleiben. Für immer.
Churchill als Prophet.
Das alte Wort, daß der Prophet in seinem Va¬
terlande nichts gelte, ist neuerdings auch an Chur¬
chill wiederum wahr geworden. Aber während
Manche Propheten der Vergangenheit das sprich¬
wörtliche Schicksal seiner Zunft ganz unverdient ge¬
troffen hat, kann man von dem ehemaligen Ersten
Lord der Admiralität nur sagen, daß seine Lands¬
leute chn endlich richtig erkannt zu haben scheinen.
Schon am 11. September 1914 hat er im
Opera-House in London Deutschlands sichere
Vernichtung angekündigt. Es werde sich, so
sagte er damals, zeigen, daß Deutschland weder un¬
genügenden Ersatz an Mannschaften hätte, noch
hinreichenden Vorrat an Ausrüstungs- und sonsti¬
gem Kriegsmaterial besäße, wenn das englische
Heer erst recht in Tätigkeit trete. In Liverpool
sagte er am 21. November 1914, es gebe bei den
Mittelmächten keine Reserven mehr an lebendiger
Energie, die das von England aufzustellende Mil¬
lionenheer Verbindern könnten, den Feldzug sieg¬
reich zu entscheiden.
Seither ist mehr als ein Jahr dahing-gangen,
aber weder das Trommelfeuer Englands und sei¬
ner Verbündeten, noch Kitcheners reklamehaft an-
Auf den Spuren der Bugarmee.
ii.
Di« Landzunge von Pinsk.
Nach der Einnahme von Brest-Litowsk, seit
Ende August also, trat die Bugarmee mit ihren
Hauptkräften aus Ruffisch-Polen heraus und drang
unter schweren Kämpfen in Wolhynien vor. Sie
bewegte sich genau in östlicher Richtung über Kob-
ryn bis nach Pinsk, indem si« gleichzeitig nach Nor¬
den und nach Süden so weit um sich griff, wie das
eigenartige Gelände es gestattete. Die geographische
Gestalt dieses Geländes war für die Richtung und
den Plan der Offensive maßgebend. Oestrich von
Brest-Litowsk ragte eine immer schmaler werdende
Hochebene landzungenartig in das unermeßliche
Sumpfgebiet hinein. Fast an der Osffeite der Land¬
zunge, wie auf einem Vorgebirge, liegt die Stadt
Pinsk, nördlich davon dehnen sich die Pinsker,
südlich die Rokitnosümpfe aus.
Die Armee beschränkte sich zwar nicht auf die
Verteidigung des festen und trockenen Hochlandes.
Im Norden und im Süden ist sie in die Sumpf¬
niederungen hinabgestiegen und schiebt auch dort
die allgemeine Linie der deutschen Front so weit
wie möglich nach Osten vor. Aber der feste Rücken
der Pinsker Landzunge bildet die Basis, von wo
die im Tiefland operierenden Truppenteile versorgt
werden.
Es sind wunderliche und fremdartige Landschaf¬
ten, in denen sich das Kriegsleben der Armee nun
schon seit Monaten abspielt. Auf der Jasioldaseite
befindet man sich in einem wirren, unübersicht¬
lichen Wechsel von Birkenwäldern und Viehweiden.
Ordentliche Straßen fehlen ganz, selbst Landwege
sind selten, und man kann sich erst einigermaßen
durchfinden, seit der unablässig rollende Kolonnen¬
oerkehr in den Wäldern und auf den Wiesen seine
tiefeingedrückten Furchen hinterlassen hat. Jen¬
seits der Jasiolda betritt man das Ueberschwem-
mungsoebiet der Pinsker Sümpfe. Eine Weile noch
pflan't sich der Laubwald fort. Deine moosigen
Stämme liefern das Baumaterial für das Höhlen-
und Hüttenlager der hinter den Schützengräben lie¬
genden rückwärtigen Stellungen. Aber die an den
Pfosten der wenigen Bauernhäuser festgebundenen
Ruderkähne gemahnen daran, mit was für fließen¬
den Zuständen man zu rechnen hat, wenn die Jah¬
reszeit mit Tauwetter und Regen die ganze Ebene
unter Wasser setzt.
Anders das Bild oberhalb des Pinastrandcs, aus
dem südöstlichen Zipfel der Landzunge. Hier fahren
wir stundenlang durch eine Sandwüste zwischen
mächtigen Dünen hin. Nur wenige Laubbäume,
ab und zu inselhaft ein kleiner Hain von alten und
hoben Kiefern, darin eine winzige Kovelle und eine
ernste Schar hoher Grabkreuze. Bon der Höhe
blicken wir auf die Sümpfe hinab wie auf ein stil¬
les ödes Meer: bei Hochwaffer muß sich wirklich ein
Ozean sich vor uns ausmbreiten scheinen bis zu
dem fernen, fernen Waldstreifen im Hintergrund«.
Jetzt im Spätherbst oder Frühwinter bebt sich noch
bei hellem Wetter das kalte Blau der Flüsse lebhaft
von dem reifüberpuderten Graugrün des welken
Moores und seiner übermannshohen Riedwlder ab.
Oben in den Dünen haben unsere Soldaten bei
den Schanz- und Befestigungsarbeiten ähnliche Ver-
hältniffe *n berücksichtigen, wie etwa bei Ostende
an der Nordsee. Es gräbt sich leicht und schnell in
dem Sande. Aber der Bau sinkt immer wieder in
sich zusammen, solange er nicht gestützt wird, und
ein klatschender Regen spült und schleift die Ränder
des wöhlgeformten Bauwerkes in kürzester Frist
berunetr. Darum müssen die Schützenoräben. Un¬
terstände, Beobachtungsposten und. Geschützstellun¬
gen inw-mdtg mit Grasboden. FoiHnen und Bret¬
tern versteift werden und einen Rost als Fußboden
erhalten, sonst ist die Arbeit vergebens.
Man begreift nickt recht, wovon die Bauern und
gar die Gutsherrschaften, die sich auf der dürren
Hochebene angesiedelt haben, eigentlich leben. Die
Dörfer verraten denn auch die bitterste Armut und
zeia-n Daseinsformen, die zuweilen an die der
Halbwilden erinnern. Zu beiden Seiten de? freien
Halbstreifens, der sich Darfftraße nennt, liegen die
grauen, mit Stroh und Ried gedeckten Hütten, un¬
verputzte niedrige Blockhausbauten, . ie nach dem
Vermögen des Eigentümers auf einem längeren
oder kürzeren Rechteck errichtet. Einige gehen er¬
staunlich in die Tiefe, länglich wie eine Raupe. Das
Innere ist durchweg in drei Räume aufgeteilt:
den vorderen Wohnraum, die mittlere Derkstätten-
und Rumpelkammer und den hinteren Viehstall.
Der Wohnraum beherbergt bei Tag und bei Nacht
die ganze Familie, und wäre sie noch so zahlreich.
Das Leben gruppiert sich um den Kochherd herum,
der ein guter Ofen ist und mit dem Schornstein zu-
sammen das einzige Mauerwerk des Hauses dar¬
stellt. Ter Hohlraum unter dem Herde dient als
Hühnerstall, die obere Platte des geräumigen Ofens
als Lagerstatt für Eltern und Kinder, wie es übri¬
gens in ganz Galizien und Polen auch der Fall fft.
Den kleinen Garten umgibt ein aus Binsen oder
Reisig geflochtener Zaun.
Was aus dem eintönigen Graugrün der Land¬
schaft und der Dörfer farbig hervorleuchtet, das sind
die Kleider der Frauen und Kinder und die gottes¬
dienstlichen Heiligtümer. Vom Säugling bis zur
Greisin hüllen sich diese Menschen nicht ohne Ge¬
schmack in die buntesten Stoffe, und wenn die Not sie
zwingt bei 5 Grad Kälte barfuß und halbnackend
umherzulaufen, zeigt das wenige, womit sie sich be¬
decken, immer noch den primitiven Schwung und
knalligen Glanz der Farben, zu echt, zu rassig, um
theatralisch zu wirken, und auch wieder ganz anders
wie bei Zigeunern. Dieselbe Verliebtheit in betäu¬
bende und blendende Gegensätze offenbaren uns die
auf Hügeln tränenden, hell und lecker gestrichenen
Holchirchen, die weiß und blauen Heiligengehäuse,
die blau und rot verzierten Kruzifixe, inmitten der
fahlen Umgebung.
In der Nähe von Pinsk liegen einige Gutshöfe,
einer- in Verbindung mit einer Tuchfabrik. Die
Herrenhäuser fallen durch ihre anständige Architek¬
tur auf, begueme wohltuende Verhältnisse, gute?
französisches Empire. Sauber geweißt, mit einem
grünen oder braunen Blechdach gedeckt, stehen sie
ungemein sicher und ruhig in den gepflegten und
doch so einfachen Parks. Zuerst stutzt man: wie mag
ein Reicher, der es auch anders haben könnte, in
diesem melancholischen Erdenwinkel ausharren,
gleichsam in der Wüste residieren, auf unfruchtba-
rem Sande, über unfruchtbaren Sümpfen? Doch
der Zauber der Einsamkeit, des füllen, weiten Aus¬
blicks, der ernsthaften schwermütigen Töne zwingt
sich auch dem Fremden bald auf. Das Innere des
stattlichen Schlosses spricht ihn umso behaglicher an,
von den hellen Wänden herab reden die alten Ge¬
mälde ein« desto wärmere und tiefere Sprache. Es
muß doch schön sein, .hier zu wohnen.
Von einem dieser Schlösser gelangen wir aus
kurzem Wege unvermutet zu einem richtigen, in
die Dünen eingebetteten Fischerdorf, wo der Strand
sich sacht zum Pinasluß senkt. Zwischen den Hüt¬
ten sind Netze ausgespannt, auf den Höfen liegt
Fanggerät umher, gegen die niedrigen Dächer
gelehnt stehen mächtige Riedgarben. Das Dorf ist
verlaffen, weit und breit kein Fischer zu sehen. Wir
malen uns aus, wie dieser verwunschene Platz sich
eines Tages wieder belebt, wie die hurtige Kraft
der Männer Kahn um Kahn in den Fluß stößt, wie
in Men Prielen und Gräben der Sümpft das Was¬
ser höher und höher steigt und die kleinen Fischer¬
boote hinausschwimmen auf das kahle, grenzenlose
schule 10 und zahlreiche Freunde des Jubilars. Mögen
pll die dem Jubilar gewidmeten freundlichen und herz¬
lichen Wünsch: in Erfüllung gehen!
* Göttinaen, 17. Nov. 1915. Dieser Tage saß in
Mackenrode der Gastwirt Windel mit einem Land-
Sirmmann, der sich wegen Gefcmgenenbewachung
rt aufhielt, in der Gaststube. Plötzlich zog der
Landwehrmann seinen Revolver und s ch o g eine
Kugel durch den Tisch. Der Wirt bat den Mann,
solche Spielereien zu lassen. Als der Wirt darauf das
Zimmer verließ, schoß der Landsturmmann einen
zwetten Schuß durch die Tür und traf W. huf dem
Flur von hinten in die Schulter, so daß die Kugel
vorn aus der Brust wieder herauskam. Gerichtliche
Untersuchung ist eingeleitet.
Kur Geisa und U ngebung.
* Dermbach, 15. November 1915. Aus Anlaß
der zahlreichen Einberufungen der Lehrer im vier¬
ten Verwaltungsbezirk zu den Fahnen findet in
diesem Herbste "keine Le brerkon fer enz statt.
* Dermbach, 19. Nov. 1915. Infolge eines Ma¬
schinendefektes blieb der heute früh gegen 7 Uhr hie.
fällige P erso ne n zug auf der Strecke zwischen den
Stationen Weilar und Urnshausen liegen. Nach¬
dem eine Reservemaschine von Dondorf beordert war,
setzte der Zug nach nahezu IV-stündiger Verspätung
seine Fahrt fort. Der Gegenzug in der Richtung
Dorndors, welcher um 149 Uhr die hiesige Station
verläßt, hatte natürlich die gleiche Verspätung, wo¬
durch der Anschluß in Dorndors nach Salzungen ver¬
fehlt wurde.
Kur Oberhefsen u. den Hess. Üemlern.
A Marburg, 19 November 1915. Am Toten¬
sonntag, nachmittags 3 Uhr, wurde bei den Krieger¬
gräbern auf dem Friedhofe ein Gedächtnis¬
gottesdienst für die Gefallenen abgehaltcn. Es
haben daran teilgenommen die Angehörigen des
ägerbataillons, die Studentenschaft und hiesige
rieger- und Gesangvereine usw. Die Ansprache
hielt Herr Professor Dr. Bornhäuser. — Trotz der
Kriegszeit, die so viele junge Leute nnter die Waf¬
fen gerufen, wird die hiesige landwirtschaftliche
Winter schule von 38 Schülern besucht. — Wie
das Landratsamt bekannt macht, erstreckt sich die
Verpflichtung, 20 Prozent des Kartoffelertrages
abznliefern, auch auf Kartoffelerzeuger unter
einem Hektar.
* Frankenberg, 18. November 1916. Bei den
letzten Stad l v e ro rd n e te nw a h len wurden
die zu ergänzenden Verördneten wiedergewählt außer
in der 3. Klasse. , Dort wurde für den Rentier
Schneider der Rentier und frühere Gastwirt Her¬
mann Balz neu gewählt. Die Beteiligung^ war
eine ziemlich rege. — Wieder neu in unserer Stadt
ist die Maul- und Klauenseuche ausgebro¬
chen und zwar diesmal unter dem Viehbestand des
Handelsmanns Liebmann Katz.
* Ziegenhain, 21. Nov. 1915. Unter Führung
des Herrn Lehrers Schulz haben kürzlich einige Klas¬
sen der Stadtschule an einem Nachmittage 1 Ztr.
Eicheln gelesen. Der Erlös ist für das Rote
Kreuz besttmmt.
* Amöneburg, 17. Nov. 1915. Dev hier gebür-
ttge Sergeant Greib, Sohn des Georg Greid zu
Koblenz, welcher bei einem Pionier-Bataillon diente,
wurde, nachdem er schon ftuher das Eiserne Kreuz
2. Klaffe erhalten, zum Offiziers-Stellvertteter be¬
fördert und mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse aus¬
gezeichnet. — Bei der im hiesigen Stadtwalde abge¬
haltenen Treibjagd wurden vier Füchse und drei
Hasen zur Strecke gebracht.
* Fritzlar, 19. Nov. 1915. Die Insassen d -s hie¬
sigen Fewlazarettes hatten kürzlich, um auch etwas
zur Besserung der Lage der erblindeten Ka¬
meraden beizusteuern, einen bunten Abend veran¬
staltet, der als Reinertrag fast 300 Mark erzielte. An
dem Gelingen des Ganzen hat Lehrer Winter von
hier und der Orchesterchor der hiesigen Präparanden-
anstalt besonderen Anteil. Die Teilnehmer waren
von dem Gebotenen sehr befriedigt.
Meer. Und indem wir hinausschauen, gewahren
wir in der Ferne eine andere Vision, eine wirklich«,
obschon unwahrscheinliche: aus einer grauen kleinen
Stadt, aus der Zusammenrottung vieler unschein-
barer Häuser steigt hoch und weiß zum Himmel eine
schimmernde Burg, em getürmter festlicher Bau:
die Kathedrale von Pinsk.
Die Russen sind Meister in architektonischer
Fernwirkung. Hier in Pinsk wie in Cholin Wähl¬
ten sie innerhalb der ungeheuren Ebene die einzige
kräftig aufftrebende Anhöhe und setzten ein übermä¬
ßig hohes, grell leuchtendes Gotteshaus darauf.
Munden im Umkreis beherrscht eS alles, ein
ahnungsvoller, überirdischer Dom, wie ihn Mar¬
mor und Edelsteine nicht mystischer formen könnten.
Aber es wirst eben nur in der Ferne oder auf
grobe, leichigetäuschte Sinne und offenbart dem
aufs E-^e gerichteten Blick aus größerer Nähe im¬
mer deutlicher seine fade Theaterpracht.
Zu Füßen des Kirchhügels und um ihn herum
svannt stch das Gasienaewirr der geschäftigen Klein¬
stadt. Einzelne Quartiere bestehen aus lauter höl¬
zernen Häusern, die aber mit den Blockhäusern der
Dörfer nichts gemein haben sondern dasselbe ange¬
nehme und wohnliche Muster wiederholen, wie die
gemauerten Häuser der anderen Viertel.
Ueber die Bevölkerung der Pinsker Hochebene
kann der heutige Besucher nicht viel erfahren. Das
Land ist Kriegsgebiet und macht eine LeidenSzeit
durch. Die städtischen Geschäfte liegen darnieder,
die Bauern müsien den Bezirk unserer vorderen
Linien verlaffen und werden scharenweise in west¬
liche Gegenden abgefühtt. Auf ihrer heimatlichen
Scholle liegen jetzt die Deutschen einquartiert und
halten Auslug nach dem Feinde, der ihnen jenseits
der Sümpfe in einer Enffernung von wenigen hun-
dett bis zu etlichen Tausend Metern gegenüberliegt
und wartet, daß der Frost den schlüpfrigen Zwischen¬
raum hatt und gangbar macht. Wer von den Sol¬
daten .in keiner Hütte Platz findet, gräbt und baut
sich einen Unterstand. Mit Schanzen und Wachen
vergeht ihnen die Zeit. Solange der Kampf ruht,
haben sie auf keinerlei Abwechslung zu hoffen.
Denn sie nach Monaten heimkehren, wird desto un¬
vergeßlicher vor ihre Erinnerung stehen die Gegend
von Pinsk: auf der einen Seite die Wiesen und
Birkenwälder, auf der anderen die Dünen mit den
Kiefernhainen und mit den Grabkreuzen zwischen
den Kiefern, ringsumher aber in der Niedccung
die flachen leblosen Sümpfe, bei Tag und bei Nacht,
iw Hrrbst und Winter öd und oroß, C, M.