Full text: Fuldaer Zeitung (1915)

Ausgabe A: UM VocheuöeUage „Jllustrierle Sonn- 
Fernsprecher Nr 8. Telegramm- 
Nr. 71 
Crftes Blatt. 
7) Freitag fcen 26. fllärz 1915. 
Anzeigen 15 Pfennig die einjpalnge Colonelzeile oder derer 
Raum, Reklamen 40 Pfennig Bei Wiederholungen Rabatt. 
Für Offerl- und Auskunflanzeigen außerdem 20 Pfennig. — 
In Konkurssällen wird der bewilligte Rabatt hinfällig. —- 
Erfüllungsort Fulda. — Fernsprecher Nr. 9 und Nr 118 
42. Zahrgang. 
Tie Stimmung bei unseren Gegnern 
,s. nach verschiedenen Anzeichen ins Schwanken ge¬ 
raten Es zeigt sich mehrsach eine Annäherung an 
feie Wahrheit, und das rst sehr bedenklich sur 
Leute, die bisher sich auf Einbildungen und Lügen 
^Ta kam unlängst der überraschende Artikel der 
Times", der offen heraus sagte, daß England sich 
nicht für Belgien ausopfere, sondern für seine eige¬ 
nen Jnteresien kämpfe. In demselben Sinne 
schreibt jetzt die „Morning Post", England sei nicht, 
wie einige Leute annehmen, aus reiner Nächsten¬ 
liebe in den Krieg gezogen, sondern weil nichts ge¬ 
ringeres als seine Existenz bedroht sei, nämlich durch 
ein „übermächtiges Deutschland". Es ist ausfallend, 
daß diese Londoner Blätter jetzt zugestehen, cs han¬ 
dele sich nicht um einen menschenfreundlichen Rechts¬ 
streit, sondern um einen selbstsüchtigen Macht¬ 
kampf. Tie „Morning Post" deutet auch an, 
warum und wozu man jetzt so offenherzig sei. Die 
bisher übliche Schönfärberei betrachtet man als die 
Ursache, daß die Arbeiterschaft bisher so wenig Eifer 
und Opserwilligkeit für die nationale Sache gezeigt 
habe. Durch den Hinweis auf die bedrohte Welt- 
machtstellung Englands hofft man das Werbegcschäft 
m besseren Schwung zu bringen, vielleicht auch die 
gefährlichen Aufstandsbewegungen einzudämmen. 
Daher versteht sich denn auch die „Morning Post" 
zu einer bitterernsten Schilderung der Lage, wie sie 
in der englischen Prefle unerhört ist. 
»Die deutschen Heere", so heißt es da, .haben bis 
fetzt ihre siegreichen^ Stellungen in Belgien, Nordfrank¬ 
reich und Polen behauptet. Ueberall kämpfen die 
Deutschen aufdemGebi et unser er Verbündeten. 
Sie nagen nicht am Hungertuch; im Gegenteil, die 
LebenSmirtelpreise sind gegenwärtig in Deutsckland eher 
niedriger als in England. Sie sind nicht zahlungsun¬ 
fähig, wie sich bei ihrenr großen Reichtum und ihrem 
ausgezeichneten Wirtschaftssystem erwarten ließ. Unsere 
braven Verbündeten, Rußland, Frankreich, Belgien und 
Serbien, schwitzen Blut bei ihren Anstrengungen, die 
Flut des Einfalls auszuhalten, und unser eigenes kleines 
Heer hat grausam und furchtbar gelitten aus Mangel 
an Mannschaft und schwerer Artillerie. — Wir geben 
gu, daß der Ausgang auf des Messers Schneide 
steht." 
Ist das nicht ein verblüffender Anfall von Wahr¬ 
haftigkeit? 
Zu gleicher Zeit schreibt die „Humanith" in 
Pa r i s, man solle sich nicht aus die unmögliche 
Aushungerung Deutschlands verlassen, sondern die 
schwierige Entscheidung ans den Schlachtfeldern ins 
Äuge fassen. 
'Bezeichnend rst ferner eine Rede des englischen 
Generalanwalts S i m o n. „Augenblicklich", sagte 
er, „ist es unsere Pflicht. Krieg zu führen und nicht 
vom Flieden zu reden, solange keiner in Sicht ist. 
So viel ich weiß, gibt es in diesem Augenblick nicht 
das geringste Anzeichen dafür, daß Deutschland 
Frieden zu schließen beabsichtigt unter Bedingungen, 
die dem Ziel entsprächen, dessentwegen man den 
Krieg begonnen hat." 
Erwähnen wir noch die Nachricht eines Wie¬ 
ner Blattes aus London, wonach man dort die 
Möglichkeit erörtere, daß Frankreich und Rußland 
kriegsmüde werden und trotz der bekannten Septem¬ 
ber-Abmachung über den gemeinsamen Frieden doch 
einen Sonderfrieden schließen könnten. Für den Fall 
sollen die Minister den Abgeordneten versichert ha¬ 
ben, daß England allein den Kamps weitersühren 
werde. 
Alle solche Anzeichen darf inan nur mit Vorsicht 
einschätzen. Wenn man aber das eine zum andern 
nimmt, dann tritt doch eine gewiffe Unsicherheit im 
Schwanken und Gähren in der Stimnmng bei den 
Feinden zutage. Man fühlt sich nicht mehr wohl in 
dem alten Li'qensystcm. Die Unerschütterlichkeit 
Deutschlands wird gar zu handgreiflich. Man sieht 
keine Wirkung des viel beschrieencn Hungerkricges. 
und besonders macht sich immer nachdrücklicher die 
Erkenntnis geltend, daß Deutschland selbst vom 
Feinde frei ist, die deutschen Heere ini Feindesland- 
stehen und alle Vorstöße und Turchbruchsversuche 
gescheitert sind- Die wiederholten Niederlagen der 
Rusien, der Fehlschlag von zwei Joffre'schen „Of¬ 
fensiven" und die Erfolglosigkeit der opferreichen 
Anoffffc der Engländer bei Neuve Chapelle äußern 
langsam, aber unaufhaltsain ihre ernüchternde Wir¬ 
kung. Bei uns sehen wir keinen Anlaß zu einem 
Stimmungswechsel und keinen A n s a tz dazu. Fe 
unruhiger' unsere Gegner werden, desto ruhiger blei¬ 
ben wir in unserer Siegeszuversicht. Wir sehen ja, 
daß die Geduldsprobe die Nerven der Gegner 
immer schärfer angreist. Jin T u r ch ü a l 1 en ist 
das deutsche Volk ihnen offenbar überlegen. Für die 
Ucberlegenheii im Durchh auen wird schon un¬ 
ser Heer zur rechten Zeit sorgen. 
Der Kries im Westen. 
Tie amtlichen französischen Berichte. 
wtb Paris, 24. März 1915. Mittwoch nachmittag: 
Eine Division der belgischen Armee machte Fortschritte 
auf dem rechten Ufer der Dser; eine andere nahm 
einen deutschen Schützengraben aus dem linken Ufer. 
Am Hartmannsweilerkopf nahmen wir nach 
der ersten Schützengrabenlinie, von der im letzten Be¬ 
richt die Rede war, eine zweite Linie auf einer Front 
von drei Kompagnien. Rechts von dieser zweiten Linie 
richten unsere Truppen sich ein in kurzer Entfernung 
vom Gipfel. Wir machten Gefangene, darunter Offi¬ 
ziere. — Mittwoch abend: Nördlich von Arr.as versuch¬ 
ten die Deutschen zwei Angriffe auf den großen Vor¬ 
sprung von Notre Dame de Lorette in der Nacht 
vom Dienstag zum Mittwoch. Ihr Mißerfolg war voll¬ 
ständig. In der Ehampagne wurde gleichfalls ein An¬ 
griff während der Nacht gegen die Feldschanzen von 
Beausejour versucht. Dieser Angriff ist alsbald 
zum Stehen gebracht worden. 
Englische Truppentransporte in Sicht. 
wtb. London, 25. März 1915. Nach Anordnung 
des Kriegsministeriums ist der Passagierver¬ 
kehr auf den englischen Eisenbahnen mit Rücksicht 
auf bevorstehende Truppentransporte zeit¬ 
weilig aufgehoben worden. Auch der gewöhn¬ 
liche Ausflngverkehr siir Ostern ist eingestellt, weil 
dann große Anforderungen an Eisenbahnen heran¬ 
treten würden. 
Her Hnnilelslirles Segen England, 
Fünf englische Dampfrr versenkt. 
vtb London, 25. März 1915. Das Reutersche 
Bureau meldet aus F 6 c a m p im französischen Ar° 
rondisiement Havre unter dem 22. März: Wie hier ver¬ 
lautet, ist die Bark „Jacques Coeur" auf der Fahrt 
nach Neufundland am 14. März 85 Seemeilen von 
Lizard, dem südlichsten Kap Englands, in der Graf¬ 
schaft Cornwall von einem deutschen Unter¬ 
seeboot, das fünf englische Schiffe ver¬ 
senkt hatte, angerufen und ersucht worden, die 
Mannschaft eines durch ein Torpedo versenkten eng¬ 
lischen Dampfers an Bord zu nehmen. Der fran¬ 
zösische Kapitän nahm die Mannschaft auf, erhielt die 
Erlaubnis, weiterzufahren und gab die englische 
Mannschaft später an einen englischen Dampfer ab. 
Wertere Erfolge unserer U.-Boote. 
Berlin, 25. März 1915. Der „Bost. Zeitung" 
zufolge meldet das Kovenbagener Blatt „Politiken" 
ans Bergen: Das Tauchboot „II 29" hieft den 
Dampfer „Botnia" von Bergen 30 Minuten nörd¬ 
lich Casquel Rocks westlich von Cherbourg an und 
veranicißte ihn, 28 Mann der Besatzung des engli¬ 
schen Dampfers „Aden wen" an Bord zu neh- 
den das Tauchboot versenkt hatte. D'.e 
Besatzung wurde in Brixham gelandet. — Aus Lon¬ 
don berichtet „Politiken": Das norwegische echtst 
„Gezell" wurde 24 Meilen von Shields von 
einem deutschen Unterseeboot gestellt. Tie Besatzung 
mnßre in die Boote gehen, (ctr. bin.) 
Bor den Augen Tausender torpediert. 
lieber die Torpedierung des englischen Kohlen - 
dampferk. „Cairntorr" wird der „Turiner Stampa" 
von ihrem Londoner Korrespondenten telegraphiert: 
Der von Tvne nach Genua bestimmte 8000 Tonnen 
große Dampfer wurde nur sechs Meilen südöstlich 
vom Strande bei Beachh Head entfernt vor den Augen 
Tausender, die bei dem herrlichen Frühüngswetter 
spazieren gingen, von einem Unterseeboot torpediert. 
Aus die von dem sinkenden Dampfer sofort abgegebe¬ 
nen verzweifelten Notflaggensignale eilten von East- 
bourne zahlreiche Boote u. Schaluppen herbei, denen 
es gelang, die gesamte aus 34 Mann bestehende Be¬ 
satzung des innerhalb dreier Stunden untergegangen.n 
Kohlendampfers zu retten, (ctr. bin.) 
Der Blockadekrieg. 
wtb Amsterdam, 25. März 1915. Den Blättern 
zufolge werden die Postdampfer der Dampfer-Gesell¬ 
schaft „Zeeland" keine Engländer, Belgier, 
Russen und Franzosen im Alter von 18 bis 
45 Jahren mehr befördern. 
Geheimnisvolle Explosionen an der englischen 
Küste. 
Amsterdam, 26. März 1915. An der Küste 
von Suffolk wurde Dienstag früh eine geheim¬ 
nisvolle Erplosior vernommen. In der Nähe von 
Oxford wurden die Bewohner durch den Donner 
von Explosionen geweckt. Tie Fensterscheiben 
klirrten. Tie Erschütterung dauerte nur einige Se¬ 
kunden. Einige glaubten, daß eine Mine explodiert 
sei, andere, daß ein Dampser torpediert wurde. Bald 
darauf hörte man Kanonenschüsse, die Ur¬ 
sache der Explosion wurde aber nicht aufgeklärt. Ein 
Polizeioffizier in Saxmundham sagte: Um 12,5,5 
Uhr wurde ich in meinem Bett durch einen furcht¬ 
baren Knall hin und her gerüttelt, es gab eine ge¬ 
waltige Explosion. Sämtliche Bügel wurden rn Pa¬ 
nik versetzt, und die Fasanen kreischten und schwirr¬ 
ten umher. Ich habe in meinem Leben keinen der¬ 
artigen Höllenlärm gehört- Ich wohne nur 5 Mei¬ 
len vom Wasser und bin überzeugt, daß er von der 
See kam. Dienstag früh zwischen 6 und 7 Ubr 
hörte man auch bei Hastings Erplosionen und ein 
Unterseeboot wurde in einer Entfernung von 
drei Meilen vom Strande gesichtet. Es glitt an der 
Stadt vorüber, tauchte unter und verschwand. 
Aus der amerikanischen Protestnote an England 
teilt das Londoner Blatt „Daily Chronicle" folgen¬ 
des mit: Wrlsons Antwort auf Englands Note wer¬ 
de in sehr scharfen Worten erklären, daß es 
keinen einzigen Präcendenzfall für den englischen 
Standpunkt gebe. Tie Antwort werde an die Ent¬ 
scheidung erinnern, die der Oberrichter der Berei¬ 
nigten Staaten Chase im amerikanischen Bürger¬ 
krieg zugunsten des englischen Schiffs „Peterhoff" 
gefällt hat, das auf der Fahrt von London nach 
Matamoras in Mexiko war. Diese Entscheidung 
lautete: Ter Handel zwischen London und Mata¬ 
moras selbst (also zwischen neutralen Gebieten) und 
die Absicht, die in Matamoras gelandeten Vorräte 
von dort nach Texas zu bringen, bedeutet kein Blök' 
kadebruch. Aie Vorräte können nicht beschlagnahmt 
werden. r (cit bin.) 
Der Kries Segen Rasslnni 
Der Rusieneinsall in Mernel. 
wtb Großes Hauptquartier, 25. März 1915. (Auu- 
lich.) lieber die B orgän gebet Memel ist fol¬ 
gendes fcstgcstelll worden: 
Am Donnerstag, den 18. März, rückten dir Rus- 
s e n, gleichzeitig von Norden und Osten kommend, in 
mehreren Kolonnen gegen Memel vor. Es waren 
sieben Reichswehr-Bataillone mit sechs bis acht älte¬ 
ren Geschützen, einige Reichswehr-Eskadrons, zwei 
Kompagnien Marine-Infanterie, ein Bataillon des 
Reswve-Regiments Nr. 270 und Grenzwachtrnppen 
aus Riga und Libau, im ganzen 6000 bis 10 000 
Mann. Der unterlegene deutsche Landsturm 
zog sich von der Grenze auf Memel zurück und mußte 
schließlich auch durch die Stadt und über das Haff und 
die Nehrung zurück gehen. 
Die Russen sengten an den Bormarschstraßen 
von Nimmersatt und Naugallen zahlreiche Ge¬ 
bäude n i e d e r, vor allem Scheunen. Im ganzm 
wivrden 15 Ortschaften schwer geschädigt. Eine er¬ 
hebliche Anzahl von Landescinwohnern, darunter 
auch Frauen und Kinder, wurden nach 
Rußland fortgesZhleppt. eine Anzahl Ein¬ 
wohner erschlagen. Am Abend des 18. zogen 
die Russen in Memel ein. Die Truppen wurden 
hauptsächlich in Kasernen untergebracht. 
Am Freitag abend erschien der russi sche Ko m- 
mandant im Rathaus, forderte den Oberbürger¬ 
meister und später noch drei weitere Bürger als G e i- 
s e l n und ließ sie in die Kasernen» die von den Rus¬ 
sen bereits in einen unglaublichen Zustand versetzt 
waren, bringen. In den Straßen der Stadt triebe» 
sich plündernde Trupps russischer So l- 
baten herum, verhafteten Einwohner, drangen in 
die Häuser ein, zerschlugen di: Fensterscheiben, P l ü n- 
derten und beraubten Lebensmittelgeschäfte, 
zwei Uhrmacherläden und einen J.uwel ier¬ 
lab c n vollständig aus. In drei Fällen sind Ver¬ 
gewaltigungen werblicher Personen bisher fcstg: stellt 
worden. Brände und Hauszerstörungen haben sich 
im allgemeinen nicht ereignet. Die Nachricht, däß 
sich russischer Pöbel an den Ausschreitungen 
beteiligte, hat sich nicht bestätigt. Ter russische Kom¬ 
mandant, dem das wüste Treiben seiner Leute an- 
scheinmd selbst ungeheuerlich schien, suchte Einhalt zu 
gebieten, indem er die Plünderertrupps in die Kaser¬ 
nen zurückschicken und schließlich die Kasernentore 
schließen ließ. 
Am Samstag vormittag war die Stadt selbst bis 
aus Patrouillen frei von russischen Sol¬ 
daten. Am Samstag abend zogen die Russen 
ab. Nur einzelne versprengte Trupps blieben in 
Memel zurück. Diese wollten bereits ihre Gewehre 
aui dem Rathause abliefern, als am Sonntag nach¬ 
mittag von neuem russische Kräfte von 
Norden her in die Stadt einrückten. Sie stießen in 
Memel bereits auf deutsche Patrouillen, 
denen stärkere deutsche Truppen von Süden her folg¬ 
ten. In einem e n : r g i s ch c n A n g r i f f, bei dem 
sich das Bataillon Nußbaum vom Ersatzregiment 
Königsberg besonders auszeichnete, warfen sie die 
Russen aus M e m c l h e r a u s. Bei dem hef¬ 
tigen Straßenkampfc verloren die Russen etwa 150 
Tote. Unsere Verlust: waren gering. Beim Zurück¬ 
gehen rissen die Russen ihre nachkommcnden Verstär¬ 
kungen in die Flucht mit. 
Die Geiseln waren bei dem Herannahen unserer 
Truppen unter Bedeckung nordwärts gefahren. Bei 
dem Kömgswäldchen blieb der Wagen stecken, die Be¬ 
gleitmannschaften flüchteten. Tie verhafteten Bürger 
suchten nach Memel. zurückzukommen. Hierbei fiel 
Der Man« auf dem Patz. 
■- Kriegspressequartier, 18. März. 
Oben auf der Höhe des Uzsoker Passes. 
Mühsam hat sich das Auto hinaufgewunden zwischen 
.österreichischen Berpflegungsstaffeln, deutschen Muni- 
tionSkolonnen, ungarischen Husarenpatrouillen. Grau, 
mit Schneeschkeiern verhängt, die ganze herrliche Land¬ 
schaft. Der Wind saust und braust um die Serpentinen, 
als hätte er's sich zum Ziele gesetzt, alles, was da die 
Paßstraße hinaufkriecht, wieder in die Tiefe zurückzu¬ 
blasen, als sei er der Bundesgenosse der Russen und wolle 
uns verhindern, an sie heranzukommen. Wind und 
Wetter sind ja von jeher der Rusien beste Freunde... . 
Aber wir halten dem Wind stand, kämpfen uns durch 
ms Wetter durch — wir werden auch schon mit den Rus¬ 
sen selber fertig werden. Das ist die Antwort, die man 
von jedem Munde hier heroben hört: „Wir kriegen sie 
klein!" Das antwortet der Offizier, das antwortet der 
Mann, das antwortet der ungarische Honved, der deut¬ 
sche Grenadier, der österreichische Jäger, die hier, wie in 
Russisch-Polen die Waffenbrüderschaft zu neuen Ehren 
dringen. 
Hinter einer halbwegs gegen den Wind geschützten 
^cke liegt ein Bataillon Jelacic-Jnfanterie und rastet. 
Kroaten, des Kaisers von Oesterreich wildeste Soldaten, 
gar braune Burschen mit mächtigen Brustkörben und 
dementsprechenden Pranken. Die Serben wiffen ein 
traurig Lied davon zu singen, wie die zufaffen! Und 
auch die Rusien haben schon den gebührenden Respekt 
vor ihnen. „Diese Kroaten", sagte mir in Kaschau ein 
gefangener ruffischer Kadett, „kommen wie eine Horde 
wütender Wölfe. Und wenn unsere Leute das Gewehr 
wegweffen, um sich zu ergeben, dann werfen sie das 
ihrige auch weg und packen uns mit den Fäusten an!" 
Jetzt liegen sie da, eingemummt in ihre Mäntel und 
Schals und verschnaufen ein bißchen. Marschkompagnien 
sind es, frisch eiugerückte Leute, die vielleicht heute noch 
die Feuertaufe erhalten. Tadellos ausgerüstet, mit ge¬ 
strickten dicken Wollhauben statt der Kappen, mit Basch- 
- kiks» diesen Schneekapuzen, deren langen Enden man als 
Schal um den Hals wickeln kann, mit Wadenstrümpfen, 
funkelnagelneue Gewehre, blitzblankes Riemenzeug; ein 
Staat sind diese Kroaten! So wie sie da sind, könnten 
sie auf das Paradefeld vor dem Kaiser marschieren. Aber 
sie haben andere Direktion! 
Endlich find wir oben. Hier wird der Wind zum 
Sturm. Keuchend, stöhnend kämpft unser Auto dagegen 
an. Zwei, drei Mal klingt es, als ginge dem Motor der 
Atem aus — und da sollen Pferde und Menschen vor¬ 
wärts, wo die Maschine versagt! 
Zur Rechten steigt der Hochwald hinan, riesige, Jahr» 
hunderte alte Eichen und Tannen, von der Spitze bis 
zum untersten Zweige mit hängender Schneelast beladen. 
Der Sturm biegt und beugt sie, schüttelt wahre Schnee¬ 
lawinen an ihnen ab, deren Flocken wie haarscharfe Ra¬ 
deln das Gesicht peitschen, durch allen Schutz und Schirm 
bis auf die Haut dringen. — — — 
Die Wegkreuzung auf der Paßhöhe. Links geht es 
ins Dorf nach Sckianki hinunter, rechts nach Bntla, in 
der Mitte führt die Straße über die Höhen weiter nach 
Turka- 
Da steht ein Mann, ein Trainrittmeister. 
Steht von morgens um 6 Uhr bis in die Nacht um 
zehn, elf. Er ist der Wegweiser für all die hunderte von 
Staffeln und Kolonnen; er weiß, wie die einzelnen Di¬ 
visionen und Brigaden stehen, und gibt Kolonnenkom- 
mandanten Ziel und Richtung, an. Er weiß, wohin die 
Meldungen zu bringen sind, wo der Feldmarschalleut- 
nant gerade ist. Er ist der lebende Wegweiser für die 
Armee, die hier oben kämpft. 
Gleichzeitig ist er auch Wegpolizei. Der Raum ist 
eng, oft stoßen drei, vier Kolonnen zusammen, zwei wol¬ 
len hinauf, die andern hinunter — die haben Munition, 
auf die die Batterien vorne warten, jene Verwundete, 
die zu Tal müffen; eins ist so dringend wie das andere 
— der drängt, der schiebt, keiner will Zeit verlieren, jeder 
muß vorwärts — die Wagen fahren ineinander, em 
Pferd stürzt, reißt ein anderes mit — das heillose Chaos 
ist da! 
Ja, wenn der Mann auf dem Paß nicht wäre. Mutig 
stürzt er sich in den Trubel, in das Lärmen, Schreien, 
Fluchen. Er kann längst nicht mehr schreien, fluchen; 
seine Stimme hat der Eiswind längst weggeblasen und 
ihn so um diese Betätigung militärischer Lebenskraft ge¬ 
bracht. Er kann nur heisere, krächzende Laute hervor¬ 
stoßen, aber er reißt doch da» Chaos wieder auseinander. 
Wenn dann die Wagen wieder nach links und rechts, 
wieder hinauf und hinunter rollen, dann zündet er sich 
als Belohnung eine Zigarette an. Das ist das größte 
Kunststück. Man denke, da oben fast tausend Meter über 
dem Meere — bei einem Sturme, der Automobile und 
Pferde umschmeißt! 
Dieser Mann ist ein Held! Ist ein Held wie seine 
Kamraden, die vorne in der Front kämpfen. Sein 
Dienst ist furchtbar, eintönig und nervenaufreibend da- 
bei; Tag und Nacht ohne Ablösung, immer ans dem¬ 
selben Fleck! Daß Gott sich erbarme! Um elf Uhr 
bringt ihm ein Soldat seine Suppe und sein Stück Fleisch 
— da? würgt er gerade zwischen zwei Munitionskolon- 
nen hinunter. Im Laufen itzt er, denn zwei Minuten 
stillstehen, und trotz der hohen Pelzstiefel, sind die Füße 
gefühllose Eisklumpeu. Seit einer Woche hat er als 
Gehilfen noch einen Leutnant, sodaß er jetzt wenigstens 
von Zeit zu Zeit zu dem Feuer, das Trainkutscher weiter 
unten gemacht haben, gehen und sich ein bischen wärmen 
kann. Am Abend trinkt er einen heißen Tee und ißt 
ein Stück Brot dazu — das ist sein Nachtmahl! Das 
ist Offiziersdienst in den Karpathen! . 
Etwas hinter der Wegkreuzung ragen ein paar rauch¬ 
geschwärzte Ruinen aus dem Schnee empor — das sind 
die kläglichen Ueberresie des ehemaligen Patzwirtshauses. 
Gegenüber an der Straße liegt eine halb zerfallene 
Hütte ohne Dach und Türe. Das ist die Fassungsstation 
fiir eine Armeegruppe. Hierher bringen die Staffeln 
und Kolonnen von der Eisenbahnstation die Vorräte, 
uni) hunderte an bosnischen Tragtieren stehen auf der 
Lichtung bereit, die Kisten dann über die Berge nach 
vorne zu den Truppen zu schleppen. Kleine, zottige Kerle 
sind da?, aber stark und zäh — selbst dieses Wetter kann 
sie nicht umbringen, obwohl sie die Nacht im Freien ver¬ 
bringen müssen, mit nichts bedeckt als ihrem struppigen 
Fell. Ställe sind keilte ha, Ouartfexe für die Menschen 
noch weniger. Rings um die Hütte lodern Feuer und 
um sie drängen sich die Treiber, wilde, gefährlich aus¬ 
sehende Gesellen aus den Urwäldern Bosniens, malerisch 
umwickelt mrt ihren roten Mänteln und Tüchern. 
In der Hütte haust der Fajsungsoffizier. Seit Mo¬ 
naten. Auch er wird nicht abgelöst, liegt da oben inSturm 
und Schnee und Eis. Sein Dienst ist nicht minder 
schwer als der seines Kameraden draußen auf dem Patz. 
Er muß die anlangenden Vorräte verteilen, ihre Um¬ 
ladung überwachen und ist für jedes Stück Zwieback ver¬ 
antwortlich, das verloren geht. Sein Quartier hat als 
Tür einen Wollfetzen und als Dach ein paar roh be¬ 
hauene Baumstämme, die mit Kotzen belegt sind. Seit 
einer Woche aber strahlt er — ein Schwarmofen steht in 
seiner, Hölle, und wenn er sie auch nicht zu erwärme« 
vermag, weil der Sturm von oben und unten, von rechts 
und links hereinbläst, es ist doch wenigstens der Schein 
der Wärme da. Mein Gott, die Illusion hilft hier her¬ 
oben vieles ertragen. —- 
Abend wird es. Grau, finster hängt der Himmel 
über den weißen Bergen und dem' weißen Wald. Wir 
waren draußen an der Front und stapfen müd und matt 
zur Paßhöhe hinauf, auf der unser Auto wartet. Au 
der Faffungsstation herrscht Ruhe. Um ihre Feuer lie¬ 
gen eng aneinander gepreßt die Bosniaken und schnar¬ 
chen. Drin in der „Stube" bockt der Fassungsoffizier 
vor seinem geliebten Lien und kocht sich auf ihm sein 
üppiges Nachtmahl, bestehend aus einer Erbsenkonserve 
und Brot. — Vor dem Walde leuchten trübe die Feuer, 
an denen Soldaten rasten — mühselig schwält der Rauch 
in die Höhe; aber warm ist's doch ein bißchen. Man 
steckt bald die Hände, bald die Füße ins Feuer und fühlt 
sich so wohl dabei als man kann. Ein paar fangen sogar 
zu singen an. schwermütige Ungarlieder aus dem AI- 
föld.-: — 
Still ist die Paßstraße. Rur von der Tiefe hört man 
das Knirschen und Knarren heraufkommender Kolonnen. 
Unten in Schianki flackert da ein Licht, dort eins- 
Oben aber eine dunkle, einsame Gestalt. Das ist der 
Trainriitmeister. der Mann aus dem Pah — Der wacht, 
Ernst Klein. Kriegsberichterstatter.
	        
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